Kirchlich oder religionslos?

<Weihnachtslieder ohne Religion> - so lautet eine Schlagzeile in der Rheinzeitung vom 19.12.2017 mit dem Untertitel <Viele besinnliche Stücke kommen ohne christlichen Kern aus>. Das Gesagte ist Faktum und nicht zu bestreiten. Natürlich kann auch nicht-religiöse Musik zur Besinnlichkeit beitragen. Die christliche Religion jedoch ist ein Randphänomen der Gesellschaft geworden und wird von der vorwiegend wohlhabenden mitteleuropäischen Bevölkerung kaum noch wahrgenommen. Wie alles im Leben seine zwei Seiten hat, so kann dieser Rückgang andererseits sogar eine positive Wirkung auf die Einheit der verbliebenen Christen im Sinne von Ökumene haben. Aus welchen Gründen auch immer, sind allenfalls noch an Heiligabend, der christlichen "Jahreshauptversammlung", die Kirchen voll. Pfarrer Dietrich Bonhoeffer, dessen nach seinem Tod zu einem Lied umgeformten Gedicht "Von guten Mächten treu und still umgeben" relativ bekannt ist, stellte schon 1944 die These vom Ende der Religion auf. Zitat: "Die Zeit, in der man alles den Menschen durch Worte -seien es fromme oder theologische Worte- sagen könnte, ist vorüber. ... Wir gehen einer völlig religionslosen Zeit entgegen." Er beobachtete in den Kriegsjahren und während seiner Gefängniszeit als Widerstandskämpfer in seinem Umfeld, dass selbst Not nicht mehr beten gelehrt hat. Auch die Zeit der Innerlichkeit mit dem Wunsch des "Seelenheils" ist für ihn abgelaufen.* Außerdem kritisierte er eine leere Religiosität innerhalb der Kirche.
*Der Begriff "Heiland" kommt in der Weihnachtsgeschichte (Lukas 2, 11) als Bezeichnung für Christus als Retter vor, weil durch ihn das Heil, die Erlösung verbürgt ist. [Den Ausdruck "Erlösung" kennen die meisten nur noch im Zusammenhang mit dem Tod nach einer schweren Erkrankung.]

Der zweite Untertitel des Zeitungsartikels <In Gottesdiensten hat es neues Repertoire schwer> entspricht jedoch nicht ganz der Tatsache; denn die Kirche, gleichgültig, ob evangelisch oder katholisch, hat im letzten Jahrzehnt umfassend innoviert: Die Katholische Kirche hat ein neues "Gotteslob" (= kath. Gesangbuch) herausgegeben, die Evangelische Kirche das EG +, das eine Menge neuer Lieder enthält, worunter sich eine Reihe rhythmisch nicht gerade leichter Synkopen-Songs befindet, die vom durchschnittlichen Gottesdienstbesucher nicht ohne Weiteres gesungen werden können. Prinzipiell ist gegen neue Lieder nichts einzuwenden, wenn sie aber vorwiegend aus Synkopen und wenig Melodie mit vielen Tonwiederholungen bestehen, sprechen sie zumindest viele ältere Leute nicht an. Sie eignen sich auch nicht gut für die Orgel als Begleitinstrument. Überdies bringen diese rhythmisch unregelmäßigen Noten Unruhe in eine Melodie. (Will man z.B. Stolpern in der Musik bildhaft darstellen, dann sind Synkopen ein geeignetes Mittel.) Das neu Errungene mag für Insider, die ohnehin Kirche und Musik nahestehen, ein Zugewinn sein. Trotz der guten Absicht nimmt der allgemeine regelmäßige Gottesdienstbesuch bzw. gar die Religiosität dadurch nicht zu. Bis auf ganz wenige Ausnahmen sieht man z.B. die gerade Konfirmierten nach dem Konfirmationssonntag trotz neuen Liedguts auch nicht mehr in der Kirche.
Kaum ist aber ein neues Gesangbuch erschienen, wird schon wieder der Ruf nach Neu-Kompositionen wie etwa für den nächsten Kirchentag laut. Auf kirchlichem Sektor unübersehbar die gleiche Hektik (durch Synkopen-Lieder gefördert) wie im hektischen Alltag. Auch wenn es viele nicht wahrhaben wollen, sind die Menschen von ständigen Innovationen Getriebene, die nicht zur Kontemplation, zu Ruhe und Besinnung kommen können und möglicherweise auch nicht wollen, obwohl in den Medien zur Rekreation vom Alltagsstress immer wieder der Begriff "Entschleunigung"
zu vernehmen ist.
Auf der von mir gestalteten Website finden Sie eine Fülle von traditionellen Kirchenliedern, in früherer Zeit sprach man da noch von "Chorälen", aber dieser Begriff ist von gestern, weil er heute zu klerikal klingt. Das Gesangbuch der Ev. Kirche in Hessen und Nassau hat einschließlich des neu erschienenen Ergänzungsbands EG + mit Texten in zeitgemäßerer Sprache inzwischen 986 Lieder, von denen eine Vielzahl urheberrechtlich geschützt ist. Darüber hinaus existiert noch eine Menge von Liedern christlicher Liedermacher, die nicht in den Gesangbüchern enthalten sind. Da fragt man sich allerdings, wann und vor allem von wem sie alle gesungen werden sollen, zumal in unserer Zeit Sangesfreude und Singfähigkeit des überwiegenden Teils der Bevölkerung durch verschiedene Faktoren bedingt stark nachgelassen haben. Früher wollte man bei Hochzeiten auf jeden Fall Orgelmusik hören, heute sind Gitarre und E-Piano auf dem Vormarsch, was Orgelbauer verständlicherweise beklagen.
Einzig für die Vorweihnachtszeit gibt es seit einigen Jahren eine säkulare Neuerung: Fußballclubs veranstalten in ihren Stadien Weihnachtssingen als Mega-Event für ihre Fans. Die Tausende von Besuchern sind bereit, dafür Tickets zu kaufen und winterliche Kälte im Freien zu ertragen. Bei dem Weihnachtssingen im Stadion von Dynamo Dresden, an dem auch der Dresdner Kreuzchor mitwirkt, werden unter anderem Stehplätze auf dem "heiligen Rasen" (!) angeboten. Nach feierlicher Stimmung mit dem entsprechenden Ambiente (primär Lichteffekte) scheint offenbar bei vielen eine geheime Sehnsucht zu bestehen.
Das alte EKG, das es zu meiner Konfirmandenzeit, während der noch viel gesungen wurde, gab, hatte immerhin mit Anhang schon 478 Lieder. Das Fatale an der jetztigen Unmenge von Liedern ist die Tatsache, dass es wegen der Vielzahl leider keine Lieder mit gemeinsamem Nenner mehr gibt, also Lieder, die allen Kirchenmitgliedern in ganz Deutschland in Text und Melodie wirklich vertraut sind, so, wie das über Jahrhunderte hinweg mit Chorälen wie beispielsweise "Nun danket alle Gott" oder "Lobe den Herren" der Fall war. In Baden-Württemberg gibt es zwar eine sogenannte Kernlieder-Liste mit 33 Liedvorschlägen, aber diese Lieder wird auch keiner -wie in früheren Zeiten- auswendig singen können.
Jetzt wünsche ich Ihnen als ewig Gestriger Zeit und Muße, sich von den alten Chorälen, die keine Gefühlsduselei sind, inspirieren zu lassen. Lassen Sie sich darauf ein. Nicht alles Alte ist schlecht.



D. Bonhoeffer-Zitat zum Jahreswechsel

Der Herr der Zeiten ist Gott. Der Wendepunkt der Zeiten ist Christus. Der rechte Zeitgeist ist der Heilige Geist.