Der Bußtag ist als gesetzlicher Feiertag abgeschafft worden.

Historische Predigt von Pfarrer Heinrich Albertz zum Bußtag 1988

Worte, die uns auch im 3. Jahrtausend noch etwas sagen können

 

 


Heinrich Albertz

* 22.1.1915 in Breslau
+ 18.5.1993 in Bremen



Heinrich Albertz mit Heinrich Böll

© Pressefoto & Bildarchiv
Siegfried Pater

 






Psalm 23

Der Herr ist mein Hirte; mir wird nichts mangeln.
Er weidet mich auf einer grünen Au und führet mich zum frischen Wasser.

Er erquicket meine Seele; er führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen.

Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich. 

Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde. Du salbst mein Haupt mit Öl und schenkst mir voll ein. 

Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang und ich werde bleiben im Haus des Herrn immerdar.

 


© Pressefoto & Bildarc
hiv
Siegfried Pater


© Landesarchiv Berlin, F Rep. 290 (04)
Nr. 0116794 / Foto: Siegmann, Horst

Heinrich Albertz

Heinrich Albertz kommt am 22. Januar 1915 als drittes Kind des reformierten Hofpredigers Hugo Albertz und seiner zweiten Frau Elisabeth, geb. Meinhof, in Breslau zur Welt. Im Jahr 1933 beginnt er mit dem Studium der Theologie in Breslau. Nach dem 1. Theologischen Staatsexamen wird er ordiniert und ist von 1939 - 1941 Pfarrer der Bekennenden Kirche. 

- 1941 bis 1945 Soldat
Nachdem er den inhaftierten Dahlemer Pfarrer Martin Niemöller in einem Fürbitt-Gottesdienst als "Pfarrer unserer Kirche" bezeichnet hat, wird er 1943 zu zwei Monaten Haft verurteilt. 

- 1945: Stelle als Flüchtlingspfarrer in Celle 

- 1946: Leiter des Flüchtlingsamtes für den Regierungsbezirk Lüneburg und Eintritt in die SPD und ab 1955 politisches Wirken in Berlin

- 1961: Innensenator. 

- März 1963 zum Stellvertreter Willy Brandts ernannt 

- Dezember 1966: Regierender Bürgermeister von Berlin (nachdem Brandt als Außenminister nach Bonn wechselte)

In seine Amtszeit fällt der Tod des Studenten Benno Ohnesorg (2. Juni 1967), dessen Erschießung durch einen Polizisten die heftigsten Studentenunruhen seit Bestehen der Bundesrepublik auslöst. H. Albertz tritt aus diesem Grund am 26. September 1967 nach nur 285 Tagen im Amt als Reg. Bürgermeister zurück. Seit dem Attentat auf Rudi Dutschke (1968) gerät er in Gegensatz zur Berliner SPD-Führung. 

- 7. Dezember 1975: Verleihung der Carl-von-Ossietzky-Medaille der Internationalen Liga für Menschenrechte (wegen seines Engagements im Zusammenhang mit der Entführung des CDU-Kandidaten für das Bürgermeisteramt in Berlin, Peter Lorenz, durch die Terroristen der "Bewegung 2. Juni")

Engagement in der Friedensbewegung gemeinsam mit Helmut Gollwitzer, Kurt Scharf, Heinrich Böll und Walter Jens
- 1980: Gustav-Heinemann-Preis
für gezeigte Zivilcourage

Bei seinem im Alter auftretenden schweren Krebsleiden fügt er seine christliche Hoffnung in folgende Worte: "Eine unbeschreibliche, unbeschreibliche  Hoffnung, dass das Leben weitergeht, dass der Tod nicht das letzte Wort hat, dass wir im Sterben nicht tiefer fallen können als in die Hände Gottes." 
H. Albertz stirbt am 18. Mai 1993 im Alter von 78 Jahren in Bremen.

Es ist der Psalm 23, der Heinrich Albertz -wie schon unzähligen gläubigen Menschen vor und nach ihm-  in Situationen der Not immer wieder Trost und Halt gegeben hat. Der Text dieses Psalms steht in der linken Spalte der Tabelle. Ein Bild vom guten Hirten finden Sie auf der Seite "Der Herr ist mein Hirte". Bitte hier klicken.



Immanuel Kant
Der kritische Philsoph Immanuel Kant (1724 - 1804), für den Religion gleichbedeutend mit moralisch sinnvoll geführtem Leben war, hat sich folgendermaßen zum 23. Psalm geäußert:
"Alle Bücher, die ich gelesen habe, haben mir den Trost nicht gegeben, den mir dies Wort der Bibel gab:  Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln."

 

Predigttext zu Offenbarung 3, 14 - 22 (etwas gekürzt)
(Von der reichen Gemeinde in Laodicea, die nicht kalt war, nicht warm, sondern lau)

Liebe Gemeinde - zuerst: Ich muss gestehen, als ich in meinem Pfarrerkalender diesen Text als von den Kirchenoberen zur Predigt für den heutigen Bußtag empfohlen las, bin ich erschrocken und habe eine Weile versucht ihm auszuweichen. Dieser Text in Bonn* zum Bußtag, von mir gepredigt - welch eine Kette von Missverständnissen kann das geben! Aber dann habe ich mich diesem strengen Brief des Verfassers der Offenbarung Johannes nach Laodicea doch gestellt.
... In einem Kommentar zu unserem Text finde ich die Sätze: "Die Stadt war so bedeutend und rege, dass die Bürger schwerreich und imstande waren, sie nach einer furchtbaren Erdbeben-Katastrophe um 60/61 nach Christus aus eigener Kraft sogleich wieder aufzubauen. Von solchem Geist des >Wirtschaftswunders< sieht Johannes die christliche Gemeinde dort angesteckt." Soweit das Zitat von Ulrich Wilkens, wahrlich kein Schwärmer.

Laodicea und Bonn. Die christliche Gemeinde hier und dort.

Nun: Der Buß- und Bettag ist ja in seiner Entstehungsgeschichte kein kirchlicher Feiertag. Der preußische König Friedrich Wilhelm III. hat ihn 1816 für die preußischen Lande angeordnet, vielleicht sogar nach einem besonderen Blick auf die neu von Preußen okkupierten Gebiete, das widerspenstige Rheinland etwa, eher gen Westen denn nach dem fernen Berlin orientiert. ... Aber stellt euch bitte vor, eine Bundesregierung gäbe uns einen neuen gesetzlichen Feiertag zum Nachdenken. Fast unvorstellbar nach den Erfahrungen mit dem 17. Juni. 

Aber genug der Geschichte! Der Brief nach Laodicea ist ja nicht an die römische oder lokale Obrigkeit in dieser Stadt gerichtet. ... Johannes schreibt an die christliche Gemeinde, sechzig Jahre nach Jesu Tod. Es ist ein drastischer Brief. "Ich kenne deine Werke, dass du weder kalt noch warm bist. Ach, dass du kalt oder warm wärest. Weil du aber lau bist, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde."

Deutlicher geht es nicht. Stellt euch vor, ein Pastor sagte dies als seine eigenen Worte, ein Präses in einem Wort an die rheinischen Gemeinden, die Synodalen auf unseren eher betulichen Synoden. Das wäre protestantischer Rigorismus, anmaßend und fanatisch. ... Aber Johannes sagt es. Er sagt es in der sicheren Erwartung des kommenden Gerichtes und des Endes der Tage und damit des wiederkommenden Christus. ...

Was heißt da kalt oder warm? Es kann doch nur heißen, dass Menschen, die von diesem Jesus gehört haben, von seinem Leben und seinem schrecklichen Tod wissen und an seine Auferstehung glauben und denen gesagt wird, dass er wiederkomme, anders als andere leben sollen -eben die Lauen, die Angepassten, die Mitläufer, die Ja-und-Amen-Sager, die Opportunisten aller Ränge und Farben, die Leute, die immer bei den stärkeren Bataillonen sind, also letztlich die Ängstlichen und Furchtsamen, denen nichts so wichtig ist wie ihre eigene Karriere, ihr Aus- und Einkommen, ihr Vergnügen. Aber auch die so genannten Linken, die sich so viel auf ihre besseren Einsichten einbilden. Kalt oder warm, das heißt ja oder nein sagen können, nicht immer nur "jein" oder sowohl als auch oder vermutlich oder wahrscheinlich oder einfach nur "weiter so", ja keineswegs nur die Parole einer Partei. Das Mitlaufen wird offensichtlich besonders gefährlich in einer reichen Umgebung wie der Erfolg, wie unser Wiederaufbau, wie der Stolz auf die eigene Leistung, wie unser voller Bauch: "Du sagst, ich bin reich und habe alles im Überfluss und brauche nichts und weißt nicht, dass du elend und jämmerlich bist, arm, blind und bloß."

Oh, liebe Freunde das auch nur vorzulesen als ein Pastor mit Bürgermeisterpension in dieser Stadt Bonn - Bad Godesberg, wo der Mensch eigentlich erst im höheren Dienst anfängt und ab einer bestimmten Autoklasse ernst genommen wird. In einem der reichsten Länder der Welt. Nach einer Katastrophe (wie in Laodicea) wieder aufgebaut. Eine Festung überzeugter und überzeugender Sicherheit. "Elend und jämmerlich, arm, blind und bloß." Man geniert sich fast ins Einzelne zu gehen. Aber wo sind wir Christen, ... wenn wir uns den Ansprüchen Jesu stellen, wenn wir die Geschichte der Bibel, der ganzen Bibel, also auch die Bibel des Juden Jesus, das Alte Testament, lesen? ... Wo kommen wir hin,** wenn wir die Bergpredigt ernst nehmen? Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter, vom verlorenen Sohn? Denkt nur an die elende Gnadendebatte. Da ist einer nicht gnadenwürdig. Und das will ein Generalbundesanwalt bestimmen. Ja, wo kommen wir hin? Wenn wir statt unserer angeblichen Sicherheit wirklich die ersten Schritte zur Abrüstung machen? Wenn wir endlich begreifen, dass wir nicht ohne die Schöpfung Gottes, die Natur aber ohne uns leben kann? Wenn wir unseren Reichtum teilten, nach außen zu den verhungernden Völkern, mit deren Armut wir noch glänzende Geschäfte machen, nach innen mit dem Drittel unseres Volkes, das an unserem Reichtum keinen Anteil hat? Wenn wir barmherzig sein könnten und traurig, wo es Not tut und streng, wenn es gilt, Gesetze zu schaffen und durchzusetzen, um Leben von Menschen und Tieren und Pflanzen zu bewahren. Wenn es um den einfachen Versuch ginge, die 10 Gebote einigermaßen zu halten. Wenn Freiheit nicht zur Freiheit des Rasens auf den Autobahnen verkäme? Wenn jene regierten, die wir mit der Regierung beauftragt haben und nicht die Großindustrie oder die Banken? Wenn vor allem im Umgang mit unserer Geschichte die Leiden der Opfer mehr interessierten als die Motive, die die Täter entschuldigen könnten? Ja, wo kommen wir hin? Das sind doch nicht irgendwelche Miesmacher oder Querulanten, die solche Fragen stellen, sondern das sind die Fragen, die uns das Wort Gottes stellt, damals in Laodicea und heute in Bonn - Bad Godesberg. 

"So setze nun alles daran und kehre um." Ja, "kehre um", heißt es hier. Es scheint sich also um eine Kehrtwendung zu handeln, die 180 0 vertragen kann. Jedenfalls eine Richtungsänderung. Ein Drehen am Hahn, der das Wasser kalt oder warm machen kann. Aufstehen also und sagen, was ist, hinschauen und nicht blind vorübergehen. Der Verbrecher Hitler hat doch nur regieren können, weil wir Alten -bis auf einige, viel zu wenige Ausnahmen- zu feige waren. ... Und wir, wir Christen zuerst und zuletzt. ... 

Haben wir eigentlich schon einmal nachgedacht, wie abhängig wir sind vom Reichtum der Reichen? Wenn Axel Springer aus der Kirche austrat und plötzlich Millionen Steuern fehlten? Wenn wir uns mit den Großen und Mächtigen anlegen, die diese Kirche finanzieren? 

Vielleicht ist darum das Christ sein in der DDR so viel glaubwürdiger als unser gutbürgerliches westliches Christ sein.

So - und nachdem wir das alles bedacht haben, dürfen wir die letzten Verse unseres Briefes lesen:

 
"Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an.
Wenn jemand meine Stimme hört und die Tür auftut,
werde ich zu ihm hineingehen und das Mahl mit ihm halten und er mit mir. ... Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt."
  Illustr.: W. Steinhausen


Ich habe, ich brauche dem nichts mehr hinzuzufügen. Viel wichtiger ist, was uns jetzt gleich unter Brot und Wein gegeben wird. Amen.

(Predigt in Bonn - Bad Godesberg am 16.11.1988)

*  1988 noch Bundeshauptstadt