Otfried Preußler: Die Glocken von Susdal
Ein Traum hat
sich mir erfüllt. Ich bin mitten im guten, alten Russland
gewesen. Zur Winterszeit. Warm bekleidet und ohne hungern
zu müssen, was vormals nicht immer der Fall gewesen ist.
Übers Wochenende sind wir in Moskau mit dem Omnibus hinausgefahren
nach Susdal. Draußen herrscht strenger Frost. Dick zugefrorene
Fenster.
Wir müssen die Eisblumen
von den Scheiben abschaben, um hinausblinzeln zu können.
Auf die Dörfer mit ihren hölzernen Häuschen,
die Dächer mit Fernsehantennen bestückt; auf die
weiten Wälder entlang der Chaussée, die nach Gorki
führt. Doch bald sind die Gucklöcher wieder zugefroren.
Erstes Reiseziel war die Stadt
Wladimir, Fahrzeit gut vier Stunden. Am Abend kamen wir dann
in Susdal an. Ich kannte Susdal bisher nur vom Hörensagen.
Mitgefangene hatten den Namen erwähnt - bei uns dort
in der Tatarischen Republik, weit drüben am östlichen
Rand Europas, wo ich fünf meiner jungen Jahre verbracht
habe. Nach dem Krieg, hinter Stacheldraht. Wir sind für
die Nacht von Samstag auf Sonntag in einem weitläufigen,
auf Tourismus zugeschnittenen Hotel untergebracht. In bemerkenswert
schlecht beheizten Zimmern übrigens.
Und dann dieser Sonntagmorgen.
Der blendend weiße, vor Kälte glitzernde Schnee.
Die Sonne steigt auf, der Himmel erstrahlt im tiefsten, im
klarsten Blau. Davor die Silhouette der alten vieltürmigen
Stadt. Heute ist sie ein einziges großes Museum, sie
steht unter Denkmalschutz. Um das Stadtbild nicht zu beeinträchtigen,
hat man unser Hotel in einer tiefen, künstlich ausgehobenen
Grube errichtet, einstöckig. Daher die Weitläufigkeit
des Gebäudes, die schlecht beheizbaren endlosen Zimmerfluchten.
Jetzt müsste man Schlitten
und Troika haben! Wir haben nur unseren Bus, der uns in die
Stadt bringt. Vorbei an niedrigen Holzhäuschen mit reich
verzierten Giebeln und Fensterrahmen. Vorbei an einer Zeile
tief verschneiter Bäume, aus deren Gezweige es rot hervorleuchtet.
Vogelbeeren. Nach dem ersten Frost nehmen sie einen herb süßlichen
Geschmack an.
EIN ERLEBNIS BESONDERER ART
Im
Kloster des erleuchteten Jewfimi, auf dem Hochufer der Kamenka
gelegen, erwartet uns ein Erlebnis besonderer Art. Von der Zwonica,
dem Glockenturm hinter der Kirche Mariä Himmelfahrt, tönt
uns vielstimmiges Geläut entgegen, ein Glockenkonzert.
Zwei Glockenschläger und ein Mädchen sind droben damit
beschäftigt, an die zwanzig Glöckchen und Glocken
verschiedener Größe, verschiedenen Klanges mit Hilfe
eines ausgeklügelten Systems von Schnüren, Seilzügen
und Hebeln anzuschlagen. Das Ergebnis: ein herrlich rhythmisches
Geläut wie von Schlittenglocken, nur eben im Großen.
Ein Kollege aus Wladimir
verschafft uns Zugang zum Glockenstuhl. Wir steigen eine eng
gewundene Wendeltreppe empor und dürfen den Glöcknern
aus nächster Nähe zusehen. Sie bewegen sich wie im
Tanz, voller Inbrunst und Hingabe. Ich muss mich zusammennehmen,
dass ich nicht losheule wie ein Schlosshund - so schön
ist's, hier oben zu stehen und über die verschneiten Dächer
und Kuppeln der weiten Klosteranlage hinwegzublicken. Auf einem
Baum in der Nähe hockt eine Schar von Krähen, reglos
und überaus konzentriert, als hörten sie dem Geläute
zu.
ALS WELTLICHER
MÖNCH
Jurij Jurjew, der
Oberglöckner, ist ein schlanker weißhaariger Mann
mit lustigen jungen Augen, das Gesicht vom Frost gerötet.
Sein Gehilfe, bedeutend jünger als er und im Zottelpelz,
ist in einem Kinderheim aufgewachsen. Von Beruf sei er Musikant.
Familie? Nein, er lebe für sich allein, gewissermaßen
als weltlicher Mönch, was immer das heißen mag. Marfa,
ein Mädchen von sechzehn Jahren, ist noch dabei; sie will
Restaurateurin werden. Gläubig? Na hören Sie, was
für eine Frage! Wer hier die Glocken schlägt, ist
natürlich rechtgläubig.
Das Repertoire der Susdaler Glockenspieler
umfasst fünfzehn verschiedene Stücke, eines schöner
und - ja, ich scheue mich nicht zu sagen: bewegender, herzbewegender
als das andere. Die großen, sozusagen die Bassglocken
geben das Tempo an. Die mittleren dienen mit ihren gewichtigen
Schlägen der rhythmischen Ergänzung, sie bestimmen
das grundlegende Muster der einzelnen Stücke. Und die kleinen
Glocken, kaum größer als Pudelmützen? Sie, deren
Klöppel jeweils zu dreien und dreien mit Stricken zusammengefasst
sind, den Zügeln einer Troika gleich: sie werden von je
einer Hand angeschlagen und steuern die Melodie bei, die Erste
Stimme.
Unmittelbar
an diesen Komplex des Klosters grenzt ein anderer an, der während
des letzten Krieges vorübergehend als Lager für einen
Teil derjenigen deutschen Offiziere gedient hat, die bei der
Katastrophe von Stalingrad mit dem Leben davongekommen waren.Darunter
auch jener Herr Paulus, der das Desaster an der Wolga maßgeblich
mitverschuldet hat. Viele von ihnen sind drüben, im ehemaligen
Lager, verhungert, viele am Typhus zugrunde gegangen. Überlebende
haben uns von ihnen erzählt, weit hinten in der Tatarei.
Noch weiß man, wo sie begraben wurden. Ich bete ein Vaterunser
für sie. Und auch für jene, die in der Tatarei liegen.
Namenlos, ohne Grabstein und Kreuz.
Ein
herrlicher Wintertag, mitten im guten, im alten heiligen Russland.
Tiefblauer Himmel, strahlende Sonne, glitzernder Schnee bei
klirrendem Frost. Wir werfen einen Blick vom Hochufer der Kamenka
hinüber zum ehemaligen Nonnenkloster Mariä Schutz
und Fürbitte. Jewdokija Lopuchina, Peters des Großen
verstoßene erste Frau, hat die Jahre ihrer Verbannung
dort zugebracht. Wie viele Tränen mögen geflossen
sein hinter jenen Mauern, dem Staatsgefängnis für
Damen von Rang und Adel? Wir blicken hinüber zum Susdaler
Kreml mit seinen Kirchen und Wehrbauten. Wir blicken auf eine
Winterlandschaft von Peter Breughel hinab, kunstvoll ins Russische
übersetzt. Mit Schlittschuhläufern auf dem zugefrorenen
Flüsschen. Mit Kindern, die sich an den verschneiten Ufern
tummeln. Mit Fischern, die Löcher ins Eis gebohrt haben,
um ihre Angeln ins Wasser hängen zu können. Nun hocken
sie da, in Pelze gehüllt, und warten.
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Pieter
Bruegel der Ältere: Winterlandschaft mit Eisläufern
und Vogelfalle (1565)
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Ein
Traum hat sich mir erfüllt. Ich bin mitten im alten Russland,
bin dankbar dafür. Bevor ich die Glöckner zum Wodka
einlade, frage ich sie: "Werdet ihr, meine Lieben, hier oben
auf eurem Glockenstuhl auch das neue Jahr einläuten?" Nu,
was denn! Natürlich werden sie's einläuten. Mit der
Malina, dem großen Festgeläut.
Bei uns in
Haidholzen werde ich an sie denken. Am Silvesterabend, Schlag
zehn, wenn bei ihnen drüben die Mitternachtsstunde gekommen
ist. Ja, ich werde gewiss an sie denken. An sie - und an alle
Freunde, die ich in Russland habe. An meine guten, die lieben
Freunde im weiten Russland werde ich denken. Und an die armen
Burschen aus dem Lager, die Unbekannten, die hier begraben liegen,
inmitten der weißen, der friedlichen russischen Breughel-Landschaft.
Mögen die Glocken von Susdal auch ihnen läuten in
jener Stunde am Anfang des neuen Jahres.
© Mikhail
Kokhanchikov/123rf.com
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