Predigt Nr. 2

Was sich durch Karfreitag und Ostern geändert hat

Eine Betrachtung von Siegfried Kettling

Knapper kann man ein Menschenleben wohl kaum zusammenfassen: Johann Wolfgang von Goethe, 1749 - 1832. Wolfgang Amadeus Mozart, 1756 - 1791. Auch bei uns kleinen Leuten, die nicht im Lexikon oder Internet erwähnt sind, ist das nicht anders. Und auch bei Jesus Christus war das nicht anders. Geboren und gestorben. Selbst wenn die Wissenschaftler die genauen Jahresdaten nur vermuten können, etwa zwischen 6 vor und 33 nach unserer Zeitrechnung. Auch bei ihm stand der Atem still, hatte das Herz aufgehört zu schlagen. Und doch ist einiges bei ihm anders.
Denn wir Menschen sterben nicht, wir werden gestorben. Wir wählen nicht den Tod (auch nicht beim "Freitod"), wir sind ihm verfallen. Der Tod ist nicht der große Tag für uns, nein, wir erleiden ihn (auch den so genannten "Heldentod"). Nein, "Herr Müller" hat uns nicht "verlassen" und "Frau Meyer" ist nicht "von uns gegangen", wie es so viele Todesanzeigen beschönigend beschreiben. Weggerissen aus dem Leben wurden sie, wurden gestorben. Der Tod fragt niemanden.

Sterben - das wird uns verfügt, das wird an uns vollzogen, ist Müssen - jenseits von Wollen und Wünschen. Aber dieser Masse all derer, die sterben müssen, ist einer entgegengetreten. Ein einziger. Sonderbar. Nicht darin ist er einzigartig, dass er am Sterben vorbeikam, sondern eben darin, dass er unser Menschsein und mit ihm das Sterben wählte, beschloss, vollzog. Weder seine Geburt noch sein Tod waren Schicksal, das ihn überkam. Beides hat er bewusst ergriffen. Bei ihm wird Passiv zum Aktiv, Passion zur Aktion, Leiden zur Tat.

Er war tot und ist lebendig geworden.  "...lebendig geworden." Die griechische Zeitformel lässt keinen Zweifel daran: Hier ist ein einmaliges Geschehen gemeint, ein in sich abgeschlossenes, datierbares Ereignis.

Es geht keineswegs um ein Überleben und Weiterwirken in Gedanken, Entwürfen, Träumen, eben nicht um die "Unsterblichkeit" Goethes oder Mozarts. Doch der "lebendig Gewordene" sagt höchst verblüffend: "Ich war tot."

Das lässt uns stolpern. Von lieben Menschen sagen wir: Sie sind tot - Gegenwartsform, Präsens. Und dieses "sind" klingt wie: Was nun gilt, das wird wohl unwiderruflich so bleiben. Und von uns selbst müssen wir eingestehen: Wir werden einmal tot sein: Zukunft, Futur. Und dieses "werden" scheint noch sicherer als das Amen in der Kirche, "tod-sicher" nämlich.

Aber nun ruft dieser Eine: "Ich war tot; durch den Tod bin ich hindurch. Den Tod habe ich hinter mir. Tod - Gegenwart für die einen, Zukunft für die anderen. Für mich ist er Vergangenheit, erledigt, passé - tot!"

Ist dieses "war" wahr, dann muss es der Ausbruch sein, der das Gefängnis sprengt, nicht weniger als "des Todes Tod".

Und es stimmt. In der Bibel heißt es "dazu ist Christus gestorben und wieder auferstanden..." - um als Herr, als Herzog, der vor allen anderen herzieht und als erster den Tod überwindet, unser Dasein neu zu gestalten. Jesu Karfreitag und Ostern sind keine "privaten" Erlebnisse, nur ihm gehörend, nur für ihn gültig. Christus will mit uns teilen, uns Anteil haben lassen an seinem Tod - wodurch unsere Lebensschuld gesühnt wird - und Anteil geben an seiner Auferstehung - wodurch wir Anteil bekommen an seinem Leben.

Dadurch definiert sich alles neu. Was Leben und was Tod bedeutet, das versteht sich nun nicht mehr von selbst oder irgendwoher (z.B. biologisch. Leben ist, wo Tod nicht ist. Tod ist, wo Leben nicht mehr ist.) Nein, jetzt heißt es: "Wer den Sohn hat, der hat das Leben; wer den Sohn Gottes nicht hat, der hat das Leben nicht."

Verbindung mit diesem Herrn zu haben, das heißt Leben - von ihm abgeschnitten zu sein, das heißt Tod.

Menschen voll blühender Gesundheit und höchster Aktivität - sie können Tote sein. Und Tote, deren Leiber längst verwesten - sie leben durch ihn. Beunruhigende Definitionen: Tote mitten im Leben, Lebende mitten im Tod.

Aufscheuchende Fragen kommen auf: Ich, ich Lebender, lebe ich wirklich? Und die überraschende Perspektive: Wir sind vom Tod zum Leben gekommen. Dabei haben wir immer gemeint, das Gefälle der Einbahnstraße müsse lauten: Vom Leben in den Tod. Doch der Herr über Tote und Lebendige lässt mich andersherum fragen: Bin ich noch tot oder schon lebendig?

"Tod" heißt demnach das Land, in dem wir Menschen schon immer wohnen, die Existenzweise, in der wir uns von Geburt her befinden. "Leben" ist dann der neue Raum, in den wir hineingestellt werden. Wer den Sohn Gottes hat, wer unter seiner Herrschaft wohnt, der lebt.