Sie hören: Es kommt ein Schiff geladen, anschl. Zu Bethlehem geboren

Das historische Ringsingen zu Goldberg (heute polnisch: Złotoryja)

Anno Domini 1362 -vor mehr als 600 Jahren- wütete der Schwarze Tod, die Pest, in dem aufblühenden Land Schlesien. Keine ärztliche Kunst vermochte der todbringenden Seuche Einhalt zu gebieten. Sie verheerte Dörfer und Städte. Wüst lag das Land.
Besonders schlimm war es in der damals wohl reichsten Stadt Goldberg gewesen. Seit 1211 mit Magdeburger Recht versehen, hatte der Ort als Mittelpunkt des schlesischen Goldbergbaus nach dem Mongoleneinfall von 1241 neuen Aufschwung genommen - nun lag er ausgestorben da, ein Bild des Jammers.

Marienkirche zu Goldberg
© Th. Blätterbauer / G. Pommer

Der Heilige Abend war angebrochen. Aber kein Licht drang aus den Häusern, keine Glocke klang von den Türmen der Marienkirche, deren gotische Halle, die so mächtig aufragte, dunkel und verlassen dastand. Lebten überhaupt noch Menschen in der schwer heimgesuchten Bergstadt am Katzbachufer?
Und wenn sie lebten: wagte sich auch nur eine einzige Seele ins Freie? Musste nicht jedermann fürchten, mit den Mitmenschen in Berührung zu kommen, von ihnen angesteckt zu werden mit jener unheimlichen Krankheit, der Pest?
Angst und Schrecken hieß die wenigen Überlebenden sich abgesondert und verborgen zu halten, sich aus ihrem Versteck in Stube oder Stall nicht herauszuwagen, um nicht Opfer der Ansteckung, Opfer des Schwarzen Todes zu werden? Wochen, ja Monate hatte der unheimliche Gast aus Asien gewütet und gewürgt, wie Fliegen waren die Menschen unter der furchtbaren Geißel dieses unfassbaren Schicksals gefallen. Und da sollte Weihnacht sein?
Dies ging dem alten Willmann durch den zagen Sinn, als er vorsichtig die Tür der Stadtschule einen Spaltbreit öffnete, um ins Freie zu lugen. Er war Einsamkeit gewohnt, denn er hatte keine Familie. Aber die Verlassenheit in dieser Stunde der Dämmerung überwältigte ihn und war so stark, dass er imstande war, sich jeglicher Vorsicht zu begeben, um nur ein menschliches Antlitz, ein menschliches Wesen zu schauen. Die Erinnerung überfiel ihn: wie er Weihnacht für Weihnacht mit seinen Scholaren die Christgeburtslieder eingeübt und dann mit den Goldbergern in der Hallenkirche gesungen hatte.
O heiliger Christ! War Goldberg völlig tot, und er, der Willmann aus dem nahen Willmannsdorf der einzig Überlebende? Denn nichts rührte sich, so sehr er auch gassauf, gassab spähte, dass ihn schier die Augen schmerzten. Er mochte lauschen, so viel er wollte: Totenstille lag drückend und bänglich über der ausgestorbenen Stadt, zunehmende Finsternis hüllte sie ein - kein Laut, kein Licht, nur unheimliches Schweigen, entsetzliche Einsamkeit.
Gottverlassenheit! Der Greis empfand sie geradezu körperlich, und er hielt es nicht aus hinter dem Türschlitz, vom Winterwind und von der Dezemberkälte geschüttelt. Nein, der Mensch will zum Menschen. Wäre sonst Weihnacht?
Der Alte mummelte sich ein in den Pelz, auf dem er kraftlos ruhte, seitdem die Menschen ängstlich voreinander flüchteten. Er nahm einen Kienspan, er schlug seit Langem wieder Feuer, er holte die Laterne, er zündete sie an, ergriff sie mit klammen Fingern und leuchtete sich voran.
Hohl und dumpf klang sein taumelnder Schritt in den leeren Gassen, gespenstisch tanzte das Laternenlicht die Häuserfronten auf und ab. Willmann blieb stehen, als fürchte er sich. Dann ging er zur Stadtmitte, zum Ring.
Der viereckige Marktplatz, auf dem sonst die Rollwagen der Tuchmacher und Sälzer standen, schien sich ins Unendliche zu dehnen. Am Himmel kein Stern.
Wie am Rande eines Abgrunds kam sich der Frierende vor, ein Häuflein Unglück im Elend der Welt. Wo winkte da Rettung in aller bittern Not und Pein?
Drohend ragte der Basaltkegel des Wolfsbergs aus der Dunkelheit.
Jetzt war dem Greise, als rauschten die Wasser der Katzbach zu ihm herauf. Das Rauschen schwoll an, und als wollte er es übertönen, begann er plötzlich mit aller Kraft, deren er fähig war, das Weihnachtlied zu singen:

Es kumpt ein Schiff geladen
bis an sein höchsten Bord,
trägt Gottes Sohn voll Gnaden
das ewig wahre Wort.

Und er sang nicht allein - es kamen aus den Tiefen der Gassen jetzt zitternde Lichter, eins und noch eins und wieder eines, bis sie ihrer sieben waren und frohen Herzens die Weihnacht einsangen, die ewige Liebe:

Zu Bethlehem geboren
im Stall ein Kindelein,
dem hab ich mich erkoren,
sein eigen will ich sein.

Dann umarmten sie einander, die letzten sieben von Goldberg, zogen um den Ring und hörten nicht auf mit ihrem Weihnachtssingen, bis ihr schlesischer Himmel voller güldener Sterne stand, die das Licht der Hoffnung trugen. So ist es dann geblieben, Jahr für Jahr, das Goldberger Ringsingen.


Alfons Hayduck, Bergstadt-Verlag



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